Für die kardiovaskuläre Sekundärprävention ist der Nutzen von ASS gut belegt. Unklar ist jedoch das Nutzen-Risiko-Verhältnis in der Primärprävention, also bei Patienten, die noch keine kardiovaskulären Erkrankungen haben: Zwar reduziert ASS möglicherweise Herz-Kreislauf-Zwischenfälle, ganz sicher aber erhöht es die Blutungsneigung.
Ein aktueller Review von CW Nemerovski et al.1 bestätigt erneut die kontroverse Studienlage und die widersprüchlichen Empfehlungen, die verschiedene Leitlinien zu diesem Thema geben.
So bleibt nach wie vor die Einzelfallbetrachtung mit der Fragestellung: wie groß ist das kardiovaskuläre Risiko eines (bisher gesunden) individuellen Patienten – ist es so groß, dass es das Blutungsrisiko durch ASS aufwiegt?
Verschiedene Scores können zur Einschätzung des individuellen Risikos eines Patienten herangezogen werden. Die o.g. Studie listet die folgenden auf:
Der Framingham Risk Score (FRS) berücksichtigt das Alter, Geschlecht, Gesamt-Cholesterol, HDL-Cholesterol, Blutdruck und das Rauchen und errechnet das 10-Jahres-Risiko für einen Myokardinfarkt. Der Modifizierte Framingham Risk Score schließt zusätzlich noch eine Diabetes-Erkrankung ein.
Von einem hohen Risiko muss ab einem FRS von über 20%, von einem niedrigen bei einem Wert unter 10% ausgegangen werden.
Ähnliche – aber in Details durchaus verschiedene – Scores sind der Reynolds Score, ASSIGN score, Framingham stroke risk score, das Systematic Coronary Risk Evaluation (SCORE) system, QRISK scores, und das PROCAM-System.
Zusätzlich erhöhen die folgenden Erkrankungen das kardiovaskuläre Risiko und müssen neben den Risikoscores mit berücksichtigt werden: Diabetes mellitus, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Aneurysma der Abdominalaorta, symptomatische Stenose der Carotisarterien, chronische Niereninsuffizienz.
Nützlich ist der Überblick, den Nemerovski et al. über die Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften geben:
- Die European Society of Cardiology und die American Heart Association sind sich in ihrer Empfehlung einig, dass bei einem 10-Jahres-Herzinfarktrisiko von und über 10% eine Primärprävention mit 75mg ASS für alle Altersgruppen und beide Geschlechter sinnvoll ist.
- Das American College of Chest Physicians geht weiter, indem es die Prävention mit ASS pauschal ab einem Alter von 50 Jahren empfiehlt (ungeachtet des individuellen Risikos).
- Dagegen empfiehlt die Canadian Cardiovascular Society ASS überhaupt nicht.
- Die U.S. Preventive Services Task Force befürwortet ein nach Risiko und Alter abgestuftes Vorgehen: jüngere Patienten sollten ASS schon bei einem geringeren Infarkt- oder Schlaganfallrisiko einnehmen, ältere Patienten erst bei einem höheren Risiko.
Fazit: Das Dilemma der fehlenden klaren Empfehlung löst der Review nicht, aber er zeigt die abzuwägenden Faktoren gut auf.
1 CW Nemerovski et al., Aspirin for Primary Prevention of Cardiovascular Disease Events. Pharmacotherapy 2012, DOI: 10.1002/phar.1127, published online 27 Sep 2012
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